von Wolfgang Beinert
Die Geschichte ist alt. Sie ist unangemessen. Sie öffnet Abgründe. Und sie führt mitten ins Thema – in ein Minenfeld. Die Geschichte geht so: Zwei Buben gehen zufällig eine Straße entlang. Da bemerken sie etliche Meter vor sich ihren Kaplan. Er bemerkt sie nicht. Er bemerkt auch nicht, dass seine Hose an der hinteren Naht einen langen Riss bekommen hat. Die beiden Buben bemerken es sehr wohl. Sie bekommen einen tiefen Einblick in die inneren Beinkleider von Hochwürden. Sie feixen bis über beide Ohren, grinsen breit und lassen einige Bemerkungen los, die nicht erwachsenenfrei sind. Doch das Unheil naht. Ein paar Tage später findet die obligate vierwöchentliche Schülerbeichte statt. Da wird ihnen bewusst, dass sie sich eine schwere Sünde auf den Hals geladen hatten. Irgendwie ging es um den Körper, sogar um die unanständigen Teile – da hatte ihnen der Kaplan die kirchliche Lehre pflichtgemäß verkündet: Auf dem Gebiet ist nahezu alles Todsünde. Die Knaben wussten sich auf der göttlichen Abschussliste. Im Klartext also, ohne Beichte Hölle. Also Beichte, war ihnen klar. Nur hatten sie ausgerechnet ihr Bekenntnis vor dem Kaplan ablegen, an dem sie schuldig geworden waren. Wie sollten sie ihm das sagen? Schließlich musste der erste Junge in den Beichtstuhl. Mit gelöster Miene kam er heraus. „Was hast du gesagt?“, will sein Kumpan wissen. „Ich habe mich über kirchliche Inneneinrichtungen lustig gemacht!“
Ich sagte schon: Die Geschichte ist alt. Da gibt es noch Kapläne, die Jugendarbeit machen, und Jugendliche, mit denen sie das tun können. Die Monatsbeichte ist noch selbstverständlich. Alle Schüler mussten sie ablegen, beaufsichtigt von ihren Lehrerinnen und Lehrern. Unpassend ist die Geschichte auch noch: Irgendwie geht es um Sex. Ich habe mich zwar um diskrete Darstellung bemüht – und deswegen auch nicht von Unterhosen, sondern inneren Beinkleidern gesprochen. So rieten es die „Priesterlichen Umgangsformen“ des Jesuiten Ludwig von Hertling, ein Buch, das bei uns im Seminar Tischlektüre war. Und abgründig ist die kleine Story zweifellos. Was ist das für ein Menschenbild, welches dahintersteckt? Misstrauisch, verklemmt, kleinlich, unscharf, ängstlich ist es. Nach dem es begründenden Gottesbild wollen wir gar nicht fragen.
In unser Thema führt sie uns leider bestens ein. Es geht um die Wahrhaftigkeit in der Kirche. Und genau die fehlt in der Anekdote völlig. Eben dieser Umstand verschafft ihr exemplarischen Charakter. Ihr Witz liegt genau darin, dass sie komprimiert, was viele Hörerinnen und Hörer selbst kennen und worunter sie schon immer leiden. Nicht nur die Anthropologie der kleinen Erzählung ist verkehrt, auch die hinter ihr stehende Glaubensauffassung ist erschreckend. Gott hat die Menschen in einen engen Käfig gesteckt, aus dem sie andauernd auszubrechen versuchen, weil sie drinnen gar nicht menschliche Menschen zu sein vermögen. Genau darauf wartet ihr Schöpfer wie ein Kriminalbeamter, um zuzuschlagen. Gäbe es die kirchliche Kontrolle (sprich: Beichte) nicht. Kann jemand, der kirchlich so sozialisiert worden ist, spüren, dass Christentum Eu-Angelion, erfreuende, fröhliche Nachricht von Gott ist? Spürt er „Evangelii gaudium“, die Freude an der Botschaft, von der Papst Franziskus in seiner Antrittsenzyklika gesprochen hatte?
Reformziel Wahrhaftigkeit
In den ansonsten ziemlich viele Risse aufweisenden Kirchen – der evangelischen wie der katholischen – herrscht gegenwärtig wohl in einem Punkt helle Einigkeit: Sie sind zu reformieren! Lange Listen laufen um, was alles zu ändern sei. Sie sind gerade wieder aufgerufen worden, als es um die Papstwahl ging. Wir kennen sie alle bestens: Von Missbrauchsprävention bis Zölibat, von Klerikalismus bis Frauenpriestertum, von mehr Rosenkranzbeten bis erweitertem Sakramentenangebot reicht das weite Spektrum. Der Ratschläge sind viele, die Bereitschaft ihnen zu folgen, ist gering, zumal sie ja ganz verschiedene Startpunkte haben: Strukturen ändern oder frömmer werden? Doch ist diese Alternative nicht abwegig? Handelt es sich um Gegensätze? Wohl eher nicht. Die Partisanen aus beiden Lagern halten dem je anderen Lager überdies vor, es gebe ja Gemeinschaften, die seine Wünsche bereits realisiert hätten und trotzdem genau so mies dastünden wie die Reformverweigerer. Auf der einen Seite hätten sich die neuen geistlichen Bewegungen nicht bewährt, auf die Johannes Paul II. so viel gesetzt habe, auf der anderen fehlten allenthalben Priester und Pastoren, auch wenn diese mit Gattin im Pfarrhaus wirkten.
Man kann das alles schlecht bestreiten. Der Verdacht wird wach, dass die Spiegelstriche auf der Reformliste eigentlich nur Kosmetika bezeichnen. Dass, anders gesagt, die Erneuerung der Kirche viel tiefer, viel grundsätzlicher anheben muss als es bisher gemeinhin geschieht. Ich habe in meinem im Herbst 2024 erschienenen Buch „Form der Reform“ versucht, solche Grundfesten kirchlichen Denkens und Lebens herauszuarbeiten. Drei spielen die Hauptrolle: Das ist die Katholizität der Kirche, also ihre Offenheit und Universalität angesichts der Fülle Gottes. Das ist zweitens die Empathie der Kirche, sprich ihr Darleben der Liebe Gottes in Jesus Christus, aus der sie west. Drittens ist es die Wahrhaftigkeit. Von ihr soll hier gehandelt werden.
Kirche und Wahrhaftigkeit
Dazu muss zunächst geklärt werden, was die wichtigsten Begriffe bedeuten. Es geht um die Kirche, deren Basis wesentlich Wahrhaftigkeit ist, es geht um die Wahrheit, die ihrerseits die Grundlage der gesuchten Wirklichkeit ist, es geht schlussendlich natürlich um diese Wahrhaftigkeit selber. Wir beginnen mit der Kirche, dem Subjekt der Wahrhaftigkeit und dem Subjekt der Erneuerung.
Den meisten Leuten dürfte bei „Kirche“ zuerst deren Institutionalität einfallen. Sie erscheint als wohlgeordnete, nach strengen Regeln funktionierende Heilsanstalt, in der ordinierte Vorsteher bis in die Einzelheiten hinein detaillierte Weisungen für Moral und Weltanschauung für die Schar der Mitglieder erteilen, die sie von der Wiege bis zur Bahre halten und hüten sollen. Sie vertritt ihre Thesen auch vor der staatlichen Gewalt. Das hat nicht selten zu erheblichen Konflikten und desaströsen Machtkämpfen geführt. Schaut man sich freilich die Glaubensquellen, die Bezeugungsinstanzen des Christenglaubens an, beispielsweise die Heilige Schrift der Bibel, gewinnt man ein ganz anderes Bild. Kirche ist kein Instrument der Beherrschung wie so viele andere. Die Worte Jesu sind denkbar deutlich: Als Macht- und Herrschaftsspekulationen sich bei den Jüngern breitmachen, fährt er dazwischen: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein“ (Mk 10,42 f.). Im Hintergrund dieser Worte steht die schon im Ersten Testament deutliche Grundgestalt des göttlichen Heilswirkens. Jesus spricht zu den Jüngern, zu der Gruppe seiner engen Nachfolger und Schüler. Sie sind Grundstock und Fundament des erneuerten Gottesvolkes Israel, das er begründet. Der Gott, der Liebe ist, wendet sich bei seinem Heilstun in der Welt nicht unmittelbar dem Individuum als solchem zu, sondern sofern es in der Liebesgemeinschaft mit allen Kindern Gotte steht. Vor Gott gibt es keine Einzelkinder. Er beruft sich ein Volk, erst eben aus den Jakobskindern. Dann, jetzt: in und mit dem Mann aus Nazareth öffnet sich der Zugang zu diesem Volk, indem Menschen aus allen Völkern die Verheißung der Gottesgemeinschaft zuteilwird.
Damit sind Bedeutung und Funktion der Kirche scharf umrissen. Kirche ist Mittel und Hilfe, sie hat mütterliche Funktionen, sie lebt aus dem Dienen. Wenn sie nicht dient, dient sie zu nichts. Ihren Dienst selber hat treffend das vergangene Konzil beschrieben: „Die Kirche ist … in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Sie ist Dasein für andere, Proexistenz. Daraus ergibt sich ihre spezifische Struktur. Selbstverständlich ist sie als Gemeinschaft gegliedert; sie verfügt über eine Leitung mit der notwendigen Autorität zur Ableistung der Aufgaben; sie kennt rechtsverbindliche Regeln – im Prinzip wie alle anderen Institutionen auch.
Da die Kirche aber spezifische Funktionen besitzt, besitzt sie auch eine spezifische Wirkungsgestalt. Paulus hat sie anschaulich gemacht im Bild vom Leib Christi. Die vielen Glieder sind mit dem Haupt, das für Christus steht, lebendig verbunden, doch sie üben ihre Funktionen nicht ausschließlich bezüglich des Hauptes und seiner Zielrichtung aus, sondern auch untereinander: Der Magen ernährt den ganzen Körper, das Auge erleuchtet alle Glieder. Paulus nennt diese Bezüge Charismen und hält dafür, dass ein Glied des Christusleibes immer wenigstens eines davon hat. So braucht auch die Kirche alle ihr Zugehörigen; fehlt auch nur eines, fehlt es ihr am Ganzen. Sie ist ein amputierter, ein kranker Körper. Gestatten Sie mir eine kleine Nebenbemerkung. Bekanntlich leidet bei uns zulande der Leib Christi an schwindsüchtiger Auszehrung. In den letzten Jahren sind Millionen Christinnen und Christen ausgetreten; dazu gesellt sich eine immer weiter klaffende Schere zwischen zunehmenden Todesfällen und abnehmenden Taufen. Die Mehrzahl derer, die die Kirche verlassen, geben an, der Grund seien nicht Glaubensdifferenzen, sondern die Unerträglichkeit des Leitungspersonals. So verständlich das auch anmuten kann, wir sollten uns klar sein, dass der Leib Christi auf diese Weise zum Krüppel wird. Die Kirche wird in ihrem Werk behindert, ihr Dienst schlafft ab.
Doch zurück zum Thema! Die eben geschilderte Struktur der Institution Kirche bedeutet, dass sie gegliederte Einheit ist, in der alle grundsätzlich gleich sind als zum Heilsdienst berufene Kinder Gottes und Geschwister zueinander. Der theologische Fachausdruck lautet: Kirche ist communio, Gemeinschaft. Man bricht das päpstliche Geheimnis nicht, wenn man zu Protokoll gibt: Das ist sie in den letzten Zeiten nicht gewesen. Während sie in den ersten beiden Jahrtausenden (rund genommen) stets bereit war, sich den geistigen Strömungen der Zeit offen zu stellen, sie zu diskutieren und sich mit ihnen gegebenenfalls zu amalgamieren, hat sie spätestens seit der Französischen Revolution ihre Rettung in der möglichst totalen Abschottung vor der „Welt“ gesucht. Paulus hatte ihr zwar auf den Weg gegeben“ „Prüfet alles und behaltet das Gute“ (1 Thess 5,21). Aber sie war überzeugt, alles Gute schon zu haben. Warum sich dann auf verdächtig Neues – verdächtig, weil Neues – einlassen? Es ist wohl nicht schwer zu sehen, dass und wie sich in dieser Mentalität bereits das Wahrhaftigkeitsproblem konturiert.
Was ist Wahrheit?
Doch ehe wir uns ihm zuwenden, haben wir darzulegen, was unter Wahrheit zu verstehen ist. Wahrhaftigkeit lässt sich begreifen als die Absicht, das als wahr Erkannte nicht nur für sich zu akzeptieren, sondern es als Maxime allen Menschen gegenüber zu vertreten, sogar dann, wenn es zu meinen eigenen Zielen kontraproduktiv ist. Wir stoßen da in ein Hornissennest: Seit den ersten Anfängen der Philosophie streiten sich die Experten um die rechte Definition: Die Pilatusfrage, was Wahrheit sei, ist nie verstummt. Bis zu dieser Stunde nicht. Wir hüten uns, in diese Diskussion einzusteigen. Ganz schlicht und einfach greifen wir die alte Bestimmung auf: Wahrheit ist die Stimmigkeit von Sache und Vernunfturteil – adaequatio intellectus et rei. Unsere deutsche Sprache verfügt neben dem Begriff wahr auch noch über das Verbum richtig. Sie sind gewiss nahe verwandt in der Bedeutung, aber sie sind nicht miteinander identisch. Ich kann sagen: Es ist wahr, dass Gott existiert, doch kaum: Es ist richtig. Dieses Wort bezieht sich auf prinzipiell nachweisbare Sachverhalte. Es ist richtig, dass 2 x 2 = 4 ist. Das kann man beispielsweise mit Hilfe von Äpfeln überprüfen. Wenn wir von der Wahrheit reden, meinen wir eher eine Tiefenwahrnehmung, die sich uns von ihren Elementen her erschließt. Es ist wahr, dass Lügen kurze Beine haben, dass sich Verbrechen nicht lohnen und dass Hans und Grete einander innig lieben. Davon sind wir überzeugt, danach richten wir unser Leben aus – mathematisch beweisen können wir alle diese Behauptungen nicht, im Gegenteil, manches scheint sie zu widerlegen. Manchmal lohnen sich Verbrechen doch.
Wenn wir theologisch von der Wahrheit sprechen, dann beziehen wir uns auf Gott und seine Sphäre. Da er die absolute Vollkommenheit ist, muss er auch die absolute Wahrheit sein. Jesus, Gottes Sohn, erklärt daher kategorisch: „ICH bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 17,6). Wahrheit im vollen Wortsinn kann es nur in Bezug auf Gott geben. Natürlich erkennen auch die Menschen Wahrheit – exakt müssen wir sagten: ein wenig von der Wahrheit. Wenn ich einem Menschen auf der Straße begegne, kann ich sofort eine Menge zutreffender Urteile machen: Er ist männlich, jung, schlampig gekleidet, trägt einen Rucksack usw. Doch wer er wirklich ist, wie er heißt, welches Schicksal er hat etc. – das alles bleibt verborgen, wenn es nur bei der Begegnung auf der Straße bleibt. Doch selbst dann, wenn wir eine freundschaftliche Beziehung aufnehmen, wenn wir uns bestens kennen – ein Gutteil des Person-Geheimnisses bleibt gewahrt. Menschen können DIE WAHRHEIT nie erkennen, es sei denn, ihnen werde eine absolute Gotteserkenntnis zuteil. Noch eine weitere Schwierigkeit steht dem im Wege. Wahrheit ist geschichtlich. Das will sagen: Sie ist kein handhabbares Ding, kein Gegenstand, den man unversehrt weitergeben könnte. Vielmehr spricht sie sich aus, hat also eine Sprachgestalt. Und die wechselt. Im Eingang des Nibelungenliedes heißt es, dass von „grozer arebeit“ berichtet werden soll. Der Autor meint jedoch nicht die körperliche Anstrengung (“Schwerarbeit“), sondern Beschwernis, Mühe, Anstrengung.
Diese Hinweise haben gravierende Folgen auch für unseren Gedankengang. Bezüglich Gottes und bezüglich allem, was mit ihm zusammenhängt, gibt es – außer ihm selber – keine absoluten oder unveränderlichen, „ewigen“ Wahrheiten, die man ein für alle Male statuieren und verbindlich machen könnte. Alle derartigen Aussagen stehen unter dem Vorbehalt der Torsohaftigkeit und Geschichtlichkeit. Was sie meinen, ist stets von neuem zu artikulieren, in die Gesamterkenntnis einzubeziehen. Wenn man ehedem von der Wahrheit der Heiligen Schrift sprach, meinte man, dass ein jeder Buchstabe von Gott inspiriert sei und also wahr. Da die hebräische Schrift keine Vokalzeichen kennt, dachten sich die sogenannten Masoreten im 9. Jahrhundert ein ausgeklügeltes Zeichensystem zur definitiven Textfixierung aus. Es gab immer wieder Leute, die auch diese als inspiriert, also als unveränderlich bezeichneten. Wir stoßen auf das unausrottbare fundamentalistische Problem. Zur Veranschaulichung solcher Gedankengänge: Wenn das Buch Genesis in Kapitel 1 die Schöpfung als Sechstagewerk beschreibt, dann ist diese eben in 6 x 24 = 144 Stunden entstanden. Stellten die Astronomen fest, dass tatsächlich etwa 13,8 Milliarden Jahre seit dem Urknall vergangen sind und das Universum immer noch nicht „fertig“, sondern in einem steten Werde- und Vergehenszustand sich befindet, dann wurden sie erst einmal als höllenverwiesene Ketzer disqualifiziert. Die Kirchenleiter weigerten sich, der Wahrheit die Ehre zu geben, also wahrhaftig zu sein. Erst als es nicht mehr anders ging, haben sie kleinlaut nachgegeben. Im Fall Galilei dauerte es von 1616 (erstes Inquisitions-Verfahren) bis zur Rehabilitationserklärung Johannes Paul II. im Jahr 1992, also runde 376 Jahre. Er sagte: Die Verurteilung sei ein Fehler gewesen aufgrund der unzureichenden Berücksichtigung des Verhältnisses von kirchlicher Lehre und Wissenschaft. Die damals geplante Aufstellung einer Statue des Astronomen im Vatikan wurde bislang nicht verwirklicht, obschon es Entwürfe dazu gibt.
Die Tugend der Wahrhaftigkeit
Wir stehen beim hauptsächlichen Hauptwort: Was ist Wahrhaftigkeit? Man kann sie definieren als eine innere Haltung, die sich durch das Streben nach Wahrheit auszeichnet und bereit ist, zur erkannten Wahrheit zu stehen und sie auch vor anderen unbedingt zu vertreten. Man kann sie erwerben und vervollkommnen. Somit lässt sie sich als eine Tugend klassifizieren. Sie geht Hand in Hand mit Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Mut und unbedingtem Wirklichkeitssinn. Damit entspricht sie dem, besser ist sie gefordert vom Wollen Jesu, die Wahrheit Gottes kundzumachen und im Reich Gottes zur Geltung zu bringen. Im Rahmen der Bergpredigt überliefert Matthäus sein Wort (Mt 5,33-37): „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße, noch bei Jerusalem, denn es ist die Stadt des großen Königs. Auch bei deinem Haupt sollst du nicht schwören; denn du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen. Eure Rede sei: Ja, ja, nein, nein; was darüber hinausgeht, stammt vom Bösen“. Das ist ein vergleichsweise langer Passus. Das zeigt, welche Bedeutung der Herr dem Thema beimisst. Der Eid ist seit je ein Versuch, die Wahrheit in der Aussage eines Sprechers aufzuspüren. Er ist vom natürlich sehr berechtigten Zweifel geprägt, dass dieser vielleicht nicht mit ihr herausrückt, weil er Nachteile befürchtet. So soll die Aussage mit dem verbunden werden, was dem Sprecher absolut heilig ist: Gott selber, die Gottesstadt Jerusalem, der eigene Kopf. Ganz sicher ist das Mittel bekanntlich nicht. Es soll auch Meineide geben. Die Bergpredigt spielt auf einer ganz anderen Ebene. Sie setzt auf den absoluten Willen zur Wahrheit als Leitmotiv bekennenden Sprechens – eben auf Wahrhaftigkeit. Es braucht nicht besonders ausgeführt werden, dass die Kirche als Repräsentantin und Vermittlerin des göttlichen Heilswillens da mit bestem Beispiel vorangehen muss. Wahrhaftigkeit wird zu einem Wesensmerkmal der Kirche Christi. Als solche vermag einer sie nur zu erkennen, wenn diese Forderung genauest möglich, denkbar vollkommen in die Tat umgesetzt wird. Unsere nächste Frage lautet mithin: Trifft das für die Kirche heute zu?
Schon bei oberflächlicher Betrachtung kommen dem Beobachter erhebliche Zweifel. Das renommier-te „Handbuch des katholischen Kirchenrechts“ (S. Haering-W.Rees-H. Schmitz, Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 32015) führt zum Stichwort „Eid“ im Register nicht weniger als 19 Einträge auf, die teilweise je mehrere Seiten umfassen. Im Kirchlichen Rechtsbuch, dem Codex Iuris Canonici, wird der Eid in den canones 1199 – 1204 platziert. In § 97 des „Handbuchs“ erklärt Markus Walser zu der zitierten Bergpredigtstelle: „Die kirchliche Tradition hat das Schwurverbot Jesu nicht als prinzipielles Verbot einer Eidesleistung verstanden, sondern als Gebot zur Wahrhaftigkeit und Ablehnung leichtfertigen und unnötigen Schwörens“ (S.1454). Parallel dazu lehrt der „Katechismus der katholischen Kirche“ in Nr. 2154: Die Überlieferung der Kirche interpretiere Jesu Wort so, „dass es den Eid dann, wenn er sich auf eine schwerwiegende und gerechte Sache (z. B. vor Gericht) bezieht, nicht verbietet“. Wer unbefangen diese Texte liest, kann sich eines leichten Schwindelgefühls nicht erwehren. Was in der Bergpredigt steht, ist unüberbietbar klar und eindeutig formuliert: „Ja, ja, nein, nein“. Da gibt es nichts zu interpretieren oder „zu verstehen“. Und wenn es um Wahrhaftigkeit geht: Kann eine Aussage nur ein bisschen wahrhaftig sein, ein bisschen auch nicht? Laut Jesus wohl eher nicht. Zu manchen anderen seiner Verlautbarungen hat sie hingegen absolut keine Interpretationen zugelassen, obschon diese alles andere als eindeutig sind.
So lautet ein beliebtes lehramtliches Argument gegen die Frauenordination: Leider ist sie nicht möglich, weil Jesus sie nicht gewollt hat. Er hat nur Männer ins Kollegium der Zwölf, ins so genannte Apostelkollegium berufen und damit gezeigt, dass leitende Stellungen dem weiblichen Geschlecht strictissime untersagt sind. Jeder Exeget rauft sich hier die Haare. Es ist ganz eindeutig, dass Jesus zwar damit eine Symbolhandlung gesetzt hat, doch nicht bezüglich des Geschlechterproblems, das gar nicht zur Debatte stand, sondern hinsichtlich seiner Absicht, das Gottesvolk, das Zwölf-Stämmevolk (von denen damals nur noch zwei existierten), Israel also, erneuern und universalisieren wollte. Die Stämme aber waren nun einmal im Ersten Testament nach den zwölf Söhnen Jakobs benannt. Um Ordination in unserem Sinn konnte es schon deswegen nicht gehen, weil Jesus gar niemanden ordiniert hat – keinen Apostel, keinen Mann, keine Frau. Das war nur ein einziges Beispiel: Die Kirche jedenfalls ist stets ziemlich frei in ihren Ausdeutungen gewesen – wie es gerade passte. Wenn man, noch ein Beispiel sei angetippt, im Gleichnis vom Gastmahl Lk 14,23 las, dass die Diener wegen des Ausbleibens der geladenen Gäste die Leute an den Wegen und Zäunen zur Feier „nötigen“ sollten (compelle intrare), leitete man daraus ab, dass Zwangseingliederungen in die Kirche rechtens seien. So Augustinus, so Thomas von Aquin. Das überlastet zweifellos das fragliche Verbum im Kontext. Wahrhaftigkeit?
Wie auch immer, die Kirche verlangt vor allem von ihren Amtsträgern Eidesleistungen (iuramenta, ius-iuranda) und eidesgleiche Bekenntnisse (professiones fidei). Zu Zeiten meiner Ausbildung hatte man den „Antimodernisteneid“ zu leisten, und zwar vor jeder Weihestufe und vor jedem akademischen Grad. Damit lehnte man mit den Pius-Päpsten jede Zuwendung zum modernen Denken kategorisch ab. Im Rahmen meiner römischen Ausbildung habe ich auf diese Weise nicht weniger als neunmal schwören müssen. Anmerkung: Die Zeremonie fand immer nach dem Mittagessen statt; vormittags in den Vorlesungen an der Päpstlichen Universität Gregoriana lehrten uns die Professoren der neueren Generation das haargenaue Gegenteil dessen, was wir beeideten. Frage: Haben wir Meineide geleistet? Jesu Bergpredigtsatz bekommt neue Wertigkeit. Ich denke, dass klar geworden ist, welche Bedeutung, welche Geringschätzung in der Kirche, welche Neubesinnung das Thema Wahrhaftigkeit grundsätzlich in der christlichen Glaubensgemeinschaft besitzt. Und: dass Reformbemühungen darüber nicht hinweggehen dürfen.
Wahrhaftigkeit in der Dogmatik
Im Folgenden möchte ich die Bedeutung der Wahrhaftigkeit nicht als solche thematisieren, sondern exemplarisch auf die Folgen von deren Verfehlung aufmerksam machen. Wir sprechen nicht von frommen Forderungen, sondern von sehr unfrommen Fakten. Bei der Auswahl der Beispiele bin ich so vorgegangen, dass ich mich auf je eines aus dem Bereich der Dogmatik, der Ethik und des allgemeinen Kirchenregiments konzentriere.
Beginnen wir mit der Dogmatik. Sie ist jener Teil der Glaubenswissenschaft, der sich mit der Systematisierung des Glaubens befasst. Dieser ist zu einem bedeutenden Teil in genau formulierten Sätzen, den Dogmen, festgehalten. Der griechische Stamm –dog kann preisen, meinen, feststellen bedeuten. Im christlichen Bereich ist das Grundwort doxa – Lob. Wir kennen aus der Eucharistiefeier die im Anschluss an das Vaterunser gesprochene Doxologie („Durch ihn und mit ihm und in ihm…“). Das Dogma will also eine Form des allgemeinen Gotteslobes sein, dieses bereiten, unterstützen, sichern. Im Zuge der allgemeinen Verrechtlichung der römischen Kirche gewann freilich mehr und mehr die Bedeutung „feststellen, fixieren, verendgültigen“ die Oberhand. Dogma war nun ein absolut und unveränderlich gültiger Satz, sozusagen mit Ewigkeitsindex. Ursprünglich hatten solche Festlegungen etwa den Sinn der Begrenzungspfosten an unseren Bundesstraßen. Diese haben ihren Sinn nicht in sich selber. Sie sind nicht das Ziel des Fahrers. Vielmehr möchten sie eine Hilfe sein, dass er es erreicht. Wer einmal bei Nebel oder in lichtloser Nacht gemerkt hat, wie hilfreich solche Pfosten sind, wird vielleicht verstehen, dass auch feste Sätze in den Nebeln und Dunkelheiten der Geschichte nötig sind, um den Weg des Glaubens erfolgreich zu bewältigen. Die einen wie die anderen aber muss man hinter sich lassen, um das jeweilige Ziel zu erreichen. Was die Dogmen angeht: Sie sind in einer bestimmten Stunde der Glaubensgeschichte entstanden, in der damals gültigen Sprache und aus der entsprechenden Denkform heraus formuliert. Da beides inzwischen überholt ein kann, sind die so ausgesprochenen Inhalte in jeder Epoche der Geschichte neuerlich auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls frisch zu justieren. Gerade und nur auf diese Weise, nicht durch starres Festhalten an der ursprünglichen Formel wird der sachliche Gehalt, sprich: der Christenglaube unverfälscht bewahrt.
Zu den wirkmächtigsten der formulierten Dogmen zählt die Erbsündenlehre. Sie geht auf den hl. Augustinus von Hippo im fünften Jahrhundert zurück. Sein Startpunkt war die Kindertaufe. Das Sakrament sei da zur Vergebung der Sünden, lehrte die Kirche. Aber haben denn Säuglinge Sünden? Wegen einer falschen Übersetzung einer Stelle des paulinischen Römerbriefes (5,12) bejahte der Kirchenvater diese Frage. Zwar sind sie zu einer persönlichen Sünde außerstande, doch sind sie direkte biologische Nachkommen des ersten Sünderpaares Adam und Eva. Durch die Sünde sind beide völlig korrumpiert worden. Dadurch wurde auch der Same Adams sündig. Und weil wir alle aus ihm stammen, sind wir einer wie die andere vom Moment unserer Zeugung an Sünder, mithin kraft der Gerechtigkeit Gottes zur Hölle verurteilt – wenn nicht durch die Taufe der Kirche alle Makel abgewaschen werden. War noch zu klären, auf welche Weise die Übertragung statthatte. Antwort: Durch die sexuelle Lust beim Zeugungsakt der Eltern. In den späten Jahren kam der Bischof von Hippo in diesem Zusammenhang noch zur Lehre von der Prädestination: Gott legt von Ewigkeit her fest, welcher Mensch gerettet, welcher verdammt wird.
Die amtliche Kirche hat sich zwar nie diesen ganzen Lehrkomplex, vor allem den letzten Punkt nicht, zueigen gemacht, doch sehr wohl dessen tragende Teile. Man konnte dem großen Star einfach nicht widersprechen. Damit hat sie unendliches Leid verursacht. Stichworte müssen reichen: Die Sexualität wurde im Wortsinn verteufelt – in jeder Äußerung, selbst in dem doch von Gott befohlenen Akt der Fortpflanzung. Wenn ein Kind ungetauft verstarb – bei der seinerzeitigen Säuglingssterblichkeit ein häufig eintretendes Geschehnis – kam es schnurstracks an den Ort ewiger Verdammung. Ihre getauften Kinder würden die Eltern möglicherweise in der Seligkeit wiederfinden, die anderen niemals. Im Mittelalter minderten die Theologen diese grausame Doktrin ab, indem sie den „Limbus puerorum“, zu deutsch „die Vorhölle“, erfanden – eine Art überirdischer Schlechtwetter-Kinderspielplatz. Die augustinische Lehre hatte erhebliche Folgen für das Gottesbild. Zwar predigte die Kirche unermüdlich die am Kreuz geschehene Erlösung, doch lässt sich die Frage nicht unterdrücken: Wer ist eigentlich wirklich erlöst worden? Niemand, der nicht katholisch getauft ist und die katholischen Dogmen hält, vermeldete amtlich das Konzil von Florenz (1414-1438). Damit schied der größte Teil der Menschheit sofort aus. Blieben noch die Katholikinnen und Katholiken. Theoretisch! In der Praxis war damit zu rechnen, dass ein gewaltiger Teil von ihnen auch kein anderes Schicksal erwartete als die Hölle. Denn sie waren kaum alle in der Lage, auch nur den rigorosen Weisungen in puncto Geschlechtsmoral auch nur näherungsweise zu entsprechen. Von allem an deren ganz zu schweigen.
Das Ergebnis ist bekannt. Alles in allem: Das Evangelium war nicht Anlass der Freude, sondern wurde über Jahrhunderte zu einer entsetzlichen Last. Erlösung erschien nicht als geschehenes, sondern als eventuelles künftiges Ereignis. Bis dahin sah man sich unausgesetzt dem Polizistengott gegenüber, der nur darauf wartete, bis er die Handschellen anlegen konnte – ewigkeitslänglich. Vielleicht ist auch Ihnen noch der Spruch aus Kindertagen gewärtig: „Ein Auge ist, das alles sieht, auch was in finstrer Nacht geschieht!“ Wir verstehen das Kindergebet: „Lieber Gott, schau doch auch einmal weg…“.
Im Katechismus der katholischen Kirche wird die Erbsündendoktrin immer noch gelehrt. Jedoch nicht mehr total. Benedikt XVI. hat den Limbus wieder geschlossen. Auch tauflose Säuglinge haben wieder Zutritt zu Gott. Von den Theologen kann die Erbsündendoktrin trotzdem nicht mehr wie gehabt vertreten werden. Sie setzt eine naturwissenschaftliche These voraus, den Monogenismus (Abstammung von einem einzigen ersten Menschenpaar), die nicht gesichert ist. Ihre Sicht auf die gottgegebene Sexualität wird der heutigen Anthropologie nicht gerecht. Die Sicht auf die Sünde kennt nichts von der Psychologie, die heute Standard ist. Natürlich leugnet kein Mensch die unübersehbare Tatsache, dass es das Böse in der Welt gibt, dass es nahezu universal zu sein scheint, dass es der Erklärung und vor allem des Widerstands bedarf. Vielleicht kann man sagen, dass das Böse, auch das moralisch Böse, die Sünde also, in unserem Erbe liegt, zu unserem Erbe gehört. Säuglinge können nicht böse sein, aber alsbald werden sie sich am Bösen beteiligen, es mehren, es weitergeben und so die Welt schädigen. Die Botschaft von der durch Jesus Christus vollzogenen Befreiung von dem Zwang zur Sünde und die damit sich ergebende Freiheit zum Guten als ein die ganze Schöpfung betreffendes Geschehen hat die Kraft und Macht in sich, die guten Ressourcen im Menschen zu heben und auf das Heil aller Kreaturen zu wenden.
Von dieser Kunde der Freiheit ist in der gegenwärtigen Kirche nur ganz wenig zu erspüren. Indem sie sich weigert, die traditionellen Thesen vom Bösen in der Welt zu prüfen und neu zu justieren, indem sie es statt dessen allein schon durch das Machtproblem in ihren Strukturen weiter mehrt, kann sie die Strahlkraft ihrer Sendung nicht mehr ansichtig machen. Da die Fadenscheinigkeit des alten Dogmas durchscheint, verliert sie das Vertrauen der Menschen, die doch eigentlich auf das warten, was das Evangelium sagen will. Es gibt auch dogmatischen Reformbedarf. Dafür habe ich ein einziges Beispiel angeführt. Tatsächlich eröffnen sich noch etliche weitere Baustellen. Einer dringenden Revision bedürfte auch der „Katechismus der katholischen Kirche“. Er legt fernab von der heutigen theologischen Erkenntnis. Um der Wahrhaftigkeit willen muss der Glaubensbestand unbedingt und unverzüglich neu und grundehrlich bedacht werden.
Ethische Wahrhaftigkeit
Nach der Dogmatik wenden wir uns der Ethik zu. Dogmatik kann man bezeichnen als die Erschließung des Glaubens aus dem Leben. Ethik oder Moral ist dann umgekehrt die Erschließung des Lebens aus dem Glauben. Unsere Erfahrungen mit der Lebenswirklichkeit Gottes aus den christlichen Quellen zeigt uns eine höchste Realität, die identisch ist mit der Liebe. Der 1. Johannesbrief hat es auf den Punkt gebracht: “Gott ist Liebe. Darin offenbarte sich die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben“ (1 Joh 4,8 f.). Daraus ergibt sich für den Autor als praktische Folgerung: „Jeder der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt“ (V.7 f.). Wie man also als Glaubender an diesen Gott leben muss, wird durch eben ihn bestimmt. Die göttlichen Gebote einschließlich des Dekalogs sind nicht Forderungen, die man um seinetwillen zu erfüllen hat. Vielmehr sind sie Maßstäbe der Liebe Gottes, an denen wir uns zu unserem eigenen Wohl und dem der Schöpfung auszurichten haben.
Auf dieser Folie betrachten wir den schrecklichsten Skandal in der Kirche von heute, in unserer Kirche. Seit über fünfzig Jahren kommt er nicht zur Ruhe. Er überschattet sogar die Wahl von Leo XIV. Er läuft gewöhnlich unter der Bezeichnung Missbrauchsskandal, wobei sofort an den sogenannten sexuellen Missbrauch gedacht wird, vornehmlich an jenen, der gegenüber Kindern und Jugendlichen erfolgt ist. Schon da wird deutlich, dass er gerade im Licht der zitierten Johannes-Stelle von besonderer Schrecklichkeit ist, weil hier die Liebe auf unüberbietbare Weise zerstört wird. Die in den letzten Jahrzehnten erschienenen Studien haben aber klar ergeben, dass der damit aufscheinende Horizont entschieden zu klein ist. Zuerst: man sollte nicht von sexuellem Missbrauch sprechen; das setzte voraus, dass es auch einen sexuellen Gebrauch anderer Menschen gibt. Das ist natürlich falsch. Zum zweiten: Unbestrittener Weise gibt es Menschen, die pädophil oder päderastisch veranlagt sind, also sexuelle Neigungen zu Kindern oder Pubertierenden haben. Selbstverständlich gibt es solche Leute auch unter denen, die der Kirche dienstbar sind. Sie gelten als nicht therapierbar; man kann sie nur von den Objekten des Begehrens fernhalten. Die Mehrzahl der Skandale dürfte aber ihre eigentliche Wurzel nicht in der Sexualität haben, sondern im Missbrauch der Macht. Um genauer zu sein: der geistlichen Macht. Was in der Kirche grassiert, ist im Grund der spirituelle Missbrauch. Er manifestiert sich in zahlreichen Vorkommnissen, wie etwa in übertriebene Gehorsamsforderungen, dem Zwang für Untergebene, ihr Erbrochenes zu essen, in Unterwerfungsritualen. Als ich an diesen Vortrag arbeitete, las ich in der Biographie des bedeutenden Psychoanalytikers Viktor Frankl, dass die Nazis in den Konzentrationslagern die Häftlinge unter andern dazu zwangen, mit der Zahnbürste den Boden zu schrubben. Exakt das gleiche haben mir auch Ordensschwestern von ihrem Noviziat berichtet. Zu den häufigsten Exzessen gehörte die sexuelle Demütigung. In der Antike, vor allem in Griechenland, war die Knabenliebe bekanntlich weit verbreitet. Sie war aber streng geregelt. Verboten war es unter allen Umständen, dass der Ältere den passiven Part übernahm: Das wäre eine absolut unzulässige Degradierung seiner Würde gewesen. Vielleicht haben wir in diesem Begriff Würde den Generalnenner der Sache gefunden. Würde ist der Niederschlag der Gottabbildlichkeit des Menschen. Wer die Würde eines anderen verletzt, verletzt im Endeffekt die Liebe Gottes – genau die Liebe, die die Kirche künden muss. Wenn die Würde des Menschen nicht mehr unantastbar ist (vgl. GG 1), ist jede Werteordnung zerstört.
Das Verbrechen verschlimmert sich, wenn man in Rechnung stellt, dass die Opfer gewöhnlich jung sind, mangelnde Lebenserfahrung haben, oft wenig gefestigt sind im Glauben, dass ihnen die psychische und emotionale Reife fehlt. Sie stehen in einer Orientierungsphase, in Lebensumbrüchen, welche durch den spirituellen Missbrauch zerstört werden können. Diese Defizite gibt es natürlich auch jenseits des Reifens. Deswegen kann der Missbrauch prinzipiell jeden treffen, Laien wie Priester, Novizinnen und Novizen, Ordenschristen und ihre Gemeinschaften. Weil der Täter gewöhnlich das Opfer dadurch gefügig zu machen unternimmt, dass er sich auf seine geistliche Würde und Gewalt beruft oder seine angebliche Vollmacht („Gott will das, was ich verlange“) ins Spiel bringt, sind gerade geistliche Gemeinschaften besonders anfällig. Es war ein Schock, als sich herausstellte, dass der von Johannes Paul II. hoch ge- und verehrte Marcial Maciel Delgado (1920 – 2008), der Gründer der privilegierten „Legionäre Christi“ unsägliche sexuelle Verbrechen begangen hatte.
Das alles sind, niemand wird eine Gegenrede wagen, entsetzliche Tatsachen. Der eigentliche, oder vielleicht besser der nachhaltigste Schaden entstand für die Kirche aber nicht daraus, sondern erst aus dem Handling der Kirchenleitung mit der nun offen gelegten Realität. Anfangs suchte man, wie schon seit eh und je üblich, das Böse nicht bei der Botschaft, sondern bei den Boten. Die „Lügenpresse“ würde einige ganz rare Fälle wie einen Luftballon aufblasen, um wieder einmal die heilige Kirche zu attackieren. Dahinter stand eine Doktrin, die bis heute nicht aufgegeben ist. Demnach ist die Heiligkeit ein Wesensmerkmal der Kirche, wie schon das Credo ausweist. Zwar gebe es leider sündige Glieder, aber diese könnten die Kirche selber nicht im mindesten tangieren. Sie habe eigentlich mit jenen nichts zu tun. Die Missetat jener Einzelgänger, diese konnte man nicht leugnen, bestand bei sexueller Übergriffigkeit in einem Vergehen gegen das Sechste Gebot, gegebenenfalls zuzüglich dem Bruch des Zölibates, zu dem eventuell der Täter oder die Täterin (auch die gab es ja) gehalten war. Man brauchte sie also nur zu versetzen, also aus ihren Vernetzungen zu lösen, um die Kirche wieder im Glanz ungetrübter Heiligkeit erstrahlen zu lassen. Was die anderen Unregelmäßigkeiten angeht, nun, die Täter waren halt ein wenig übereifrig, überstreng vielleicht. Ein klärendes Gespräch mochte genügen. Was in allen Fällen nicht da war: Dass das Opfer in den Umkreis der Aufarbeitungsbemühungen geriet. Um die Opfer kümmerte sich in der Regel kein Mensch. Kein kirchlicher Amtsträger fühlte sich verpflichtet, den oft schrecklich traumatisierten Betroffenen geistlich und finanziell beizustehen. Das wäre doch eigentlich das Minimum christlicher Liebe gewesen. Stattdessen lautete das Strategieprogramm: Vertuschen um jeden Preis.
Die Folgen sind nur zu bekannt: Ein nie erlebter Vertrauensverlust der Kirche ließ Millionen Menschen in den letzten Jahren Jahr für Jahr ihr den Rücken kehren. Nicht wie einstens Glaubensfragen, auch nicht der Wunsch der Steuerersparnis waren das Grundmotiv, sondern dass man das Kirchenverhalten nicht mehr mittragen zu können glaubte. Meinungsumfragen zum Vertrauen in Institutionen ergeben seit langem: An erster Stelle stehen Ärzte und die Polizei mit 81-88%, ganz am Ende die Kirchen, vor allem die römisch-katholische. Tendenz: freier Fall. Im Jahr 2017 gaben 48% der Protestanten und 29% der Katholiken an, sie hätten Vertrauen zur Kirche. Anno 2024 lauten die Zahlen: 27% für die Evangelische Kirche, nur noch 11% für die katholische Kirche. Wahrhaftigkeit trauen ihr immer weniger Leute zu.
Deutlicher als an anderen Punkten wird offenbar, dass zum dringendsten Reformbedarf die Wiederherstellung des Vertrauens an die Integrität und damit der Wahrhaftigkeit kirchlichen Tuns und Sagens gehören muss. Die Sexualmoral wird an erster Stelle völlig zu überdenken sein. Auf diesem Gebiet sind nicht nur die gröbsten Fälle des spirituellen Missbrauchs zu registrieren, dieses Gebiet stand auch lange an der ersten Stelle des Sittlichkeitskatalogs in der kirchlichen Unterweisung. Es ist nicht zufällig, dass sich die Kirchenkrise mit der Enzyklika Paul VI. „Humanae vitae“ von 1968 verbindet, die bekanntlich die Frage der Geburtenregelung in einer von vielen Katholikinnen und Katholiken als unzumutbar erlebten Weise regeln wollte. Es besteht wie in der Dogmatik ein erheblicher Korrekturbedarf auch in der katholischen Morallehre.
Kirchenleitung in Wahrhaftigkeit
Unser dritter Punkt ist die Leitungsstruktur der Kirche. Wenn die Quellen verlässlich sind, dann war das tapferste Organ des Apostels Petrus der Mund. Mit dem schwor er am Gründonnerstag ewige Gefolgschaft. So stimmt es wohl in der Sache, was die Legende erzählt. Als es um 64 wegen der Christenverfolgung des Kaisers Nero in Rom, brenzlig wurde, schlich er sich heimlich und leise aus der Stadt in Richtung Süden. Auf der Via Appia ist er noch nicht lange gelaufen, da begegnet ihm der Herr Jesus. „Quo vadis, Domine – Wohin gehst du, Herr?“, fragt erstaunt der Flüchtling. „Iterum crucifigi“, lautet die lakonische Antwort: „Um noch einmal gekreuzigt zu werden“. Heute noch erinnert an der ehemaligen römischen Ausfallstraße ein Kapellchen an die Legende. Nun, Petrus hatte verstanden; er drehte um und kehrte nach Rom zurück – crucifigi, um gleichfalls ans Kreuz geheftet zu werden, den Kopf nach unten.
In der Tiberstadt sind auch alle seine Nachfolger, fast alle, geblieben. Es hat auch gar nicht ganz so selten petrinische Fluchtversuche gegeben, am schlimmsten und längsten zwischen 1309 und 1377, die Zeit der „Babylonischen Gefangenschaft“ in Avignon. Doch sie haben der Kirche einen Gestaltwandel sondergleichen zugemutet. Petrus hätte ihn nicht einmal zu träumen vermocht. Natürlich können wir hier auch nicht annähernd einen Abriss der Kirchengeschichte vorlegen. Doch die Hauptlinien der Entwicklung sind herauszustellen. Einmal weisen wir hin auf die Verbeamtung der Führungsstruktur, die mit Kaiser Konstantin Anfang des 4. Jahrhunderts einsetzte: Die Bischöfe wurden aktiv in die Staatsorganisation einbezogen und damit automatisch auch in das öffentliche Machtgefüge. Das war nicht unbedingt nachteilig. Als in der Völkerwanderungszeit das Imperium Romanum sich aufzulösen begann, blieben die Bischöfe die einzige Ordnungsmacht – und die haben sie nachdrücklich gegen das entstehende Chaos eingesetzt. Erinnert sei an Leo den Großen, den Namenspatron des neuen Papstes.
Dennoch, aufs Ganze gesehen, verstrickten sich die Kirchenleiter, der Papst nicht ausgenommen, in die politischen Auseinandersetzungen, ohne doch für sich und die anderen eine eindrückliche Unterscheidung zwischen kirchlicher Funktion und staatlichen Erfordernissen machen zu können. Das Evangelium der Liebe gegenüber allen Menschen musste Schaden nehmen. Der allerheiligste Vater und der allerchristlichste König schlugen den jeweiligen Gefolgsleuten des anderen die Köpfe ein.
Zum anderen ist hinzuweisen auf die zunehmende Klerikalisierung der Leitungsebene in der Glaubensgemeinschaft. Als in der Jerusalemer Gemeinde sehr bald nach Ostern die Frage anstand, wie man mit den sich zahlreich anschließenden sogenannten Heiden umgehen müsse, ob sie das jüdische Gesetz halten müssen oder nicht, setzten sich um das Jahr 48 die Apostel, die jerusalemer Gemeindeleiter mit der Gemeinde zusammen, um zu beraten, zu beschließen und das Ergebnis umzusetzen. Die communio-Struktur der Kirche zeigt sich deutlichst. Deutlich zeigt sie sich auch noch in ihrer ersten Wachstumsperiode. Traten dogmatische oder organisatorische Probleme auf, versammelten sich die Bischöfe des betroffenen Gebietes – also einer Provinz oder auch der universalen Kirche –zu einer Versammlung, die den Namen Synode oder Konzil bekam. Beide Vokabeln besagen das gleiche: Zusammenkunft, Versammlung. Im ersten Jahrtausend waren vor allem die Ökumenischen Konzilien, also die gesamtkirchlichen Konvente, auch von Laien beschickt. Ja, der oberste Laie, der römische Kaiser, berief sie samt und sonders ein und nahm mit seinen Beratern führend teil. Aus den verschiedensten Gründen, die hier nicht genannt werden können, gewann der römische Bischof, der Petrus-Nachfolger, der Papst innerhalb des kirchlichen Organismus eine immer stärkere Position. Es gab zwar auch im zweiten Jahrtausend Konzile, die sich ökumenisch nennen, doch bei Licht besehen waren sie sehr oft nur Veranstaltungen eben dieses Papstes, der sich mehr und mehr gegenüber ihren Beschlüssen autonomisierte. Der Höhepunkt war mit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) erklommen: Der römische Bischof beanspruchte die höchste Gewalt in der Kirche sowohl in der Jurisdiktion wie in der Lehrbefugnis (Unfehlbarkeit). Ausdrücklich wurde festgelegt, dass päpstliche Verlautbarungen „ex sese, non autem ex consensu ecclesiae“ verbindlich seien: Aus sich selbst, nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche. Von der einstigen Communio-Gestalt der Christusgemeinschaft war nichts mehr zu sehen.
Die nachvatikanischen Päpste haben die ihnen zugeschriebene Macht bestens genutzt. Ein handgreiflicher Beleg ist das Enchiridion von Denzinger-Hünermann. Es ist zuletzt 2017 in 45. Auflage herausgekommen. Sie umfasst mit allen Registern 1860 Seiten. Die Dokumente von den Anfängen bis 1870 (Beginn des Ersten Vatikanischen Konzils) umfassen 803 Druckseiten. Die Verlautbarungen von 1870 bis 2013 sind auf 808 Seiten untergebracht. In lediglich 143 Jahren sind also mehr Dokumente aufgelaufen als in den bald zweitausend Jahren vorher! Zudem wurden die Papstworte zunehmend infallibilisiert. Das Konzil von 1870 hatte ein unfehlbares Urteil des Papstes an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Bis heute ist es unter den Theologen fraglich, ob diese für ein päpstliches Dokument vor 1854 zutreffen. Was die Zeit nachher anlangt, beschränken sie sich auf die beiden Mariendogmen von 1854 (Unbefleckte Empfängnis) und 1950 (Himmelaufnahme). De facto aber wurde auf schleichendem Wege die Höchstqualität praktisch auf alle amtlichen Papstverlautbarungen ausgedehnt. Johannes Paul II. legte auch kirchenrechtlich fest: Sämtliche kirchenamtlichen Verlautbarungen sind in Gehorsam von den Gläubigen anzunehmen, auch dann, wenn die Unfehlbarkeit für sie überhaupt nicht beansprucht wird. Das hatte Vaticanum I nie beabsichtigt. Wahrhaftigkeit in der Kirche?
Die hier knapp nachgezeichnete Entwicklung wurde begleitet von einer bereits im Mittelalter perfekt vollzogenen Scheidung von Klerikern und Laien. Jene wurden als nahezu perfekt und vollkommen betrachtet, diese waren mit allen möglichen aus ihrer Stellung rührenden Makeln behaftet. Von den biblischen Vorgaben war nichts geblieben. Dort wird klipp und klar unterschieden zwischen den beiden griechischen Wörtern éthnos und laós. Sie bedeuten zwar beide Volk, doch Paulus beispielsweise nennt die normalen Volk-Zusammenschlüsse éthne, den Begriff laós reserviert er für das auserwählte alte wie neue Volk Gottes. Wer sich taufen lässt, wird diesem zugeordnet und ist fortan laikós – Laie. Mit anderen Worten: Christ sein und Laie sein ist dasselbe. Heute ist der Laie gegenüber dem Kleriker eigentlich eine Karikatur des Christenmenschen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wurde im lateinischen Mittelalter Laie zum Synonym für Idiota, im heutigen Deutsch steht der Laie für einen unbedarften, unwissenden, bedeutungslosen Menschen, der nur so tut als ob: Es gibt Laienschauspieler, Laienrichter, Laienverbände. Steigerungsform: Blutiger Laie. In der Kirche hatte er so viel wie nichts zu sagen. Er galt als Echokammer der Amtsträger, als Papstclaqueur, als gehorsames Schaf der Hirten. Er durfte auf dem Betschemel knien, auf der Kirchenbank sitzen. Und den Geldbeutel zücken.
Die prekäre Gesamtlage der heutigen Glaubensgemeinschaft ist das geradezu logische Ergebnis dieser Entwicklung. Denn sie stellt eine Perversion der von den Glaubensquellen her vorgesehenen Gestalt der Ecclesia dar. Diese ist communio. Diese ist degeneriert zur communio hierarchica. Die Gemeinschaft besteht in der auf den römischen Bischof hin zentrierten Hierarchie. Wenn alle Bischöfe absolut papsttreu sind, ist sie perfekt. Das muss auch herausgestellt werden. Der Forderung nach Wahrhaftigkeit wird so nicht entsprochen.
Im vorigen Jahr wurde der neue Bamberger Erzbischof ins Amt eingeführt. Als Metropolit kann er den Papst bitten, ihm das Pallium zu verleihen. Das ist eine Art Stola aus Lammwolle, die vom Papst gesegnet wird. Franziskus kam diesem Ersuchen nach und überreichte er es ihm persönlich. Zugleich wurde ihm allerdings mitgeteilt, dass er es vorerst nicht anlegen dürfe. Der Nuntius müsse es ihm erst in Bamberg nochmals öffentlich und feierlich übergeben. So sollte der Papstprimat in aller Form und vor allem Volk herausgestellt werden. Hier wird ein Widerspruch deutlich gemacht, der die heutige Kirchenverfassung tief bestimmt. Danach hat das höchste Leitungsamt das Kollegium der Bischöfe insgesamt zusammen mit dem Papst inne. Was sich von selbst versteht: Der römische Bischof gehört selbstverständlich dem Kollegium integral an. Auf der anderen Seite aber spricht das kanonische Recht dem Papst ganz allein unabhängig von allen anderen Gremien und Personen die volle und oberste Leitungsgewalt zu. Paul VI. formulierte in einem Zusatz zur Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils mit aller Schärfe: ad placitum – nach Belieben. Die Bischöfe sind also gar nicht nötig, sie haben also am Ende nichts zu sagen, sondern müssen sich alles sagen lassen – vom Bischof von Rom. Zur Wahrhaftigkeit der Kirche gehörte es, diesen Stolperstein aus dem Weg zu räumen und klare Leitungslinien zu erstellen.
Wir müssen nach allen den Ereignissen, die sich seit 1968, dem Publikationsdatum von „Humanae vitae“, abgespielt haben, konstatieren: Es ist im Grunde das passiert, was geschieht, wenn man die Feder einer Uhr überspannt: Sie geht kaputt. So hat auch die Kirche unabsehbaren Schaden genommen. Ihre Form und Gestalt ist abgewichen von der ursprünglichen, der originalen Form der Anfänge. Sie bedarf der Reform; und deren Hauptanliegen ist: Sie muss wahrhaftig werden: Die Ansprüche des Glaubens und der Lehre von der Kirche sind zu erfüllen; die Klerikalisierung und Hierarchisierung entsprechen ihnen mitnichten. Geschieht das nicht, verliert sie noch mehr an Glaubwürdigkeit. Diese aber ist, s sei wiederholt, ihr wichtigstes Kapital.
Wie kann es weitergehen?
Versuchen wir ganz rasch noch, eine Art Fazit zu erstellen. Ich möchte annehmen, dass im Bedenken der Fakten unübersehbar eines klar wird: Die Kirche bedarf dringendst der Erneuerung. Es wird nicht viele geben, die das immer noch in ernsthafte Abrede stellen. Aber wie soll Reform geschehen? Das ist die Frage, welche die Glaubensgemeinschaft umtreibt. Sie wird ja auch schon des längeren gestellt. Zwei Antworten haben sich vor allen anderen herauskristallisiert. Sie haben sich leider auch verfestigt. Man muss von Lagern oder Parteiungen in der Kirche sprechen. Da sind die traditionsverhafteten Gläubigen. In einem Gespräch sagte mir einer nach Abspielen der Jeremiaden-Platte über die misslichen Zustände: „Wir müssen zurück zu guter Väter aller Sitte, als es noch Glauben gab und Frömmigkeit“. Und da sind die reformerisch gesinnten Kirchenmitglieder, welche die Institution Kirche verlassen haben – weg von guter Väter alter Sitte, so schnell und weit es geht. Nennenswerten Erfolg hat keine dieser Gruppen bisher gehabt. Ich sehe den Grund darin, dass einmal unterstellt wird, dass Spiritualität und kirchliche Struktur zwei Paar Stiefel sind, dass in Folge davon die Meinung entsteht, man müsse entweder ganz schlicht frömmer werden oder ganz intensiv die Manifestationen der verfehlten Struktur ändern.
Wegen dieser beiden falschen Unterstellungen kann es nicht klappen. Frömmigkeit und Strukturveränderung sind zwei Aspekte einer einzigen Sache. Die Spiritualität zeigt sich in den Strukturen, die Strukturen sind die einer geistlichen Größe. Wer die Religion der Liebe leben möchte, kann nicht autokratisch sein; wer vor allem Macht will, kann nicht wirklich lieben. Dann entstehen Widersprüche im kirchlichen Gefüge– einige wenige haben wir herausgestellt. Sie sind kein böses Wunder. Sie sind die logische Konsequenz mangelnder Wahrhaftigkeit. Ein altes Wort spricht davon, dass die Wahrheit nackt sei. Das will sagen: Sie ist so, wie sie ist. Sie kann befreiend sein und beleidigend, die Welt hell machen und verdunkeln. Wahrhaftigkeit heißt, sich dieser Tatsache ebenfalls unverhüllt stellen. Wenn wir versuchen, der Wahrheit gleichsam bunte Kleider anzulegen, verfälschen wir die Wirklichkeit. Wir werden Lügner. Seit Hieronymus wird als Leitlinie der Nachfolge des Herrn gesagt: „Nackt dem nackten Christus folgen“. Das ist das letzte Ziel aller Erneuerung, aller Selbstverwirklichung der Glaubensgemeinschaft.
Wird die Kirche, werden wir dem nachkommen? Eine realistische Antwort wird weder ganz pessimistisch noch ganz optimistisch sein. Gewiss, die Lage ist sehr ernst und das Zeitfenster, in dem sie sich regenerieren kann, vielleicht nicht sehr groß. Wir haben nicht alle Zeit der Welt. Aber muss man nicht auch konstatieren, dass echte und gute Ansätze da sind. Der vergangene Pontifikat hat, das sehen wir schon jetzt, die Kirche in einer irreversiblen Weise verändert. Schon dadurch, dass nun das Stichwort Synodalität zum ekklesiologischen Vokabular zählt, ist der Anfang zu einer Erneuerung der kommunionalen, der gemeinschaftsförmigen Gestalt der Kirche, kurz zu ihrer biblischen Gestalt gemacht, auch wenn bis zur Vollgestalt noch ein weiter Weg ist und man sich auf das nun gültige Kirchenbild zu einigen hat. Positiv ist zu vermerken: Der Wille zur Reform wird stärker und konturierter. Bei seiner Erstansprache auf der Loggia von St. Peter am 8. Mai 2025 hat sich Leo XIV. zu ausdrücklich zu Synodalität in der Kirche bekannt. Verwirklicht er sie auch, dann mag es einmal so sein: Eines erwartbaren Tages wird es wieder junge Leute geben, geschart um junge Frauen und Männer im geistlichen Amt, die sich miteinander, aneinander und an dem Gott der Liebe freuen werden, nicht an den kirchlichen Inneneinrichtungen. Die kommen da leicht in Ordnung. Die einen wie die anderen…